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MEDIENKRITK
Der Faktencheck einer Projektwebsite der University of Washington, die Da- tenbanken über nachhaltige Fischerei enthält, bestätigt, dass sehr viele Behauptungen in der Doku seriösen Überprüfungen nicht standhalten.
Zusammenhänge zwischen der Zerstö- rung lokaler Fischergemeinden und der angeblichen Überfischung in den west- afrikanischen Küstengewässern (an an- derer Stelle schwärmt „Seaspiracy“ über den Fischreichtum dieser Region) sowie dem Ausbruch von Ebola konstruiert. Weil Fisch knapp sei, meint der Filmau- tor, müssten die Menschen notgedrun- gen mehr Landsäugetiere und Busch- fleisch essen.
Fundamentalkritik unterstellt fehlende Nachhaltigkeit
Passend zu seiner Behauptung, dass es keine nachhaltige Fischerei gäbe, kriti- siert Tabrizi mehrere Meeresschutzor- ganisationen, die Zertifizierungsstan- dards für nachhaltige Fischerei entwi- ckelt haben. Im Fokus steht dabei vor allem der Marine Stewardship Council (MSC), dessen „Blue Label“ laut Tabri- zi „rein finanziell motiviert“ sein soll. Es decke „ein Leichentuch der Geheim- haltung“ über die Fischindustrie, das darauf abziele, deren finanzielle Inte- ressen zu kontrollieren und zu schüt- zen. Tabrizi beklagt, dass sich der MSC geweigert habe, seine Fragen zu be- antworteten. MSC-Sprecherin Ishbel Matheson begründet die Weigerung ihrer Organisation zu einem Interview jedoch mit dem Verhalten von Tabrizi. Er sei unangekündigt mit versteckter,
laufender Kamera in der Rezeption der NGO erschienen. Vielleicht hätten die Experten und Mitarbeiter des Earth Is- land Institute, das das Delphin-Safe- Label-Projekt verwaltet, sich auch bes- ser überlegen sollen, wem sie da ein Interview gewähren. Auf die Frage, ob er 100-prozentige garantieren könne, dass jede mit dem „Dolphin Safe“ ge- labelte Thunfischdose auch tatsächlich „delfinsicher“ erzeugt worden ist, hatte Mark J. Palmer, der bei Earth Island für das Delfinschutzprogramm verantwort- lich ist, wahrheitsgemäß geantwortet, so etwas könne niemand garantieren. Nicht jeder Fischer sei ehrlich und man habe zwar Beobachter an Bord, doch natürlich nicht auf allen Schiffen. Sie könnten vielleicht bestochen sein und müssten schließlich auch mal schlafen. Im Film interpretiert Tabrizi diese In- formationen völlig frei in der Aussage, das Dolphin-Safe-Siegel sei wertlos und biete keine Garantien für Delfinschutz, weil die Fischer lügen und Beobachter an Bord bestochen seien.
Nicht nur Vertreter der Fischindustrie, von NGO und Interessenverbänden kritisieren die zweifelhaften Recherche- methoden des Filmautors, auch man- che Akteure, die in der Doku auftreten oder zitiert werden, verwahren sich im Nachhinein gegen ihre missbräuchliche Darstellung. Äußerungen seien zurecht- geschnitten und aus dem Zusammen- hang gerissen, wodurch ein irreführen- der Inhalt entstehe. Es sei zwar löblich, dass die Doku auf einige Missstände in der Fischerei aufmerksam mache, doch ihre wissenschaftliche Genauigkeit lasse zu wünschen übrig. Das National Fis- heries Institute der USA forderte schon vor der Erstveröffentlichung der Doku von Netflix, genauer zwischen legitimer Dokumentation und reiner Propaganda zu unterscheiden. Gavin Gibbons, der beim NFI für Kommunikation zuständig ist, sagte, man wisse schon von Tabri- zis früheren Filmen „Cowspiracy“ und „What The Health“, dass dieser Filmema- cher einen „relativ freien“ Umgang mit Fakten pflege. Was da als Dokumentati- on getarnt daherkomme, sei in Wahrheit ein „veganer Indoktrinationsfilm“.
Experten kritisieren die Doku als „irreführend“
Vertreter der Plastic Pollution Coaliti- on beschuldigen Tabrizi, die Plastikver- schmutzungskrise im Ozean bewusst falsch darzustellen. Er habe nur jene Se- kunden ihrer Kommentare aus den Inter- views ausgewählt, die seine eigene Mei- nung und Erzählung unterstützen. Auch die Umweltwissenschaftlerin Christina Hicks beklagt sich auf Twitter über ihre irreführende Darstellung in der Doku, die den Eindruck vermittele, sie schlage auf die Fischindustrie ein. In der Fische- rei gäbe es zwar tatsächlich noch manche Probleme, die jedoch lösbar seien. Man könne nicht auf sie verzichten, weil sie in vielen Regionen entscheidende Bedeu- tung für die Ernährungssicherheit habe.
Natalia Winkelman von der New York Times gab dem Film eine gemischte bis negative Note und meint zu Tabrizi, er habe sich „in einem Meer trüben und verschwörerischen Denkens verloren“. José Villalón, Nachhaltigkeitsbeauftrag- ter bei Nutreco, kritisiert die Einseitig- keit, Ungenauigkeit und Verwendung alten Filmmaterials, das zum Teil schon vor Jahrzehnten entstand und längst überholt ist. Und Adriana Sanchez von der Iberostar-Gruppe merkt ironisch an: „Ich kann es kaum erwarten, bis nach „Cowspiracy“ und „Seaspiracy“ dem- nächst auch „Plantspiracy“ und „Water- spiracy“ folgen werden“.
Dr. Bryce Stewart, der an der Universität New York Meeresökologie und Fische- reibiologie lehrt, bezeichnet den Film in einem Twitter-Thread als „schlimmste Form von Journalismus“. „Seaspiracy“ übertreibe beständig und stelle Zusam- menhänge her, wo es keine gibt. „Viele Szenen waren inszeniert und ich weiß, dass mindestens einer der Befragten aus dem Zusammenhang gerissen wur- de“. Insgesamt schade die Doku mehr als dass sie nütze. „Spricht ‚Seaspiracy‘ schockierende und wichtige Themen an ? Absolut. Aber ist der Film zugleich auch irreführend ? Ja, von den ersten Minuten an“.
Dr. Manfred Klinkhardt
www.fischmagazin.de
FischMagazin 4/2021 53